Literatur & Radio von Helmut Gold

 
Zurück zur Literatur-Übersicht

Paul Wegener

Diese kurze Pause sei mir vergönnt. Als Kammerdiener braucht man hin und wieder entspannende Minuten. Man hat es ja nicht so leicht in der heutigen Zeit. Überall herrscht Krieg - Hass und Elend. Für die meisten keine Hoffnung, kein Ende in Sicht. Für viele keine Überlebenschancen. Da kann ich mich glücklich schätzen, als Diener bei den Wegeners beschäftigt zu sein. Gute Leute. Adelige.

Ich habe nicht das Verlangen nach einem Schläfchen. Mir geht in letzter Zeit zuviel durch den Kopf. Ich muss an meinem Plan weiterarbeiten. Ich werde erst zufrieden sein und Ruhe finden, wenn ich die Tat vollbracht habe. Damit man mir aber folgen kann, muss ich weiter ausholen.

Ich war ein äusserst ruhiges und braves Kind. Ich wollte immer im Mittelpunkt stehen und von jedem geliebt werden. Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Die totalitäre Erziehung, die ich genoss, ist verantwortlich dafür, dass ich nicht so geworden bin, wie ich es mir im Innersten gewünscht hatte. Ich unterstand fremden Einflüssen, die sich nicht beschreiben lassen. Mein ursprünglich fröhliches, problemloses Leben hatte spätestens nach dem Eintritt in die höhere Schule ein Ende. Ich musste mich abfinden, eine Nummer zu sein und für das restliche Leben ein unbedeutender, belangloser Mensch zu bleiben.

Ich beschuldigte meine Eltern. Bald kam es zu den ersten chaotischen Familienauseinander- setzungen, meine Lebensfreiheit wurde weiter eingeschränkt, und ich durfte, abgesehen von den Schulstunden, nicht mehr in die Öffentlichkeit. Der Hass gegen meinen Vater, der schon von klein auf vorhanden war, steigerte sich zu einem Höchstmass. Die überaus starke Hingabe und grosse Liebe meiner Mutter gegenüber nahm ab. Freund hatte ich keinen mehr. So stand ich alleine und hilflos da, im schönsten Jünglingsalter.

Über den schmerzlichen Verlust der Freune bin ich bis heute nicht hinweggekommen. Ob es an ihnen oder gar an mir lag, weiss ich nicht. Ich hatte sie weder beleidigt noch geschlagen. Ich versuchte doch nur gut mit ihnen auszukommen. Ich sah das Schrecklichste auf mich zukommen und dachte an Selbstmord. Meine schulischen Leistungen nahmen ab. Ich wurde ein sehr schlechter Schüler. Bald war ich von den negativen Erlebnissen so verunsichert, dass jedes öffentliche Auftreten vor der Klasse nur Gelächter verursachte. Da taten natürlich die Lehrer mit. Ich wurde zur Witzfigur und konnte im Grunde nichts dafür.

In dieser entsetzlichen Phase lernte ich zufällig einen verständnisvollen, aufrichtigen Jungen gleichen Alters kennen. Wir waren bald die besten Freunde. Er besuchte dieselbe Schule. Ich hoffte nun insgeheim, diese Bekanntschaft werde mir wieder zu Ansehen verhelfen. - Und wirklich, es dauerte nicht lange, ich legte mein unsicheres, schüchternes Auftreten ab und war anerkannt. Ich unternahm alles, um das Freundschaftsband fester zu ziehen. Wir hatten denselben Vornamen. Mein Freund war überall dabei und zeigte sich von meinen Vorschlägen und Ideen begeistert. So war binnen kürzester Zeit mein Frohsinn wiederhergestellt.

Meine schulischen Leistungen besserten sich. Ich schloss später die grossen Abschlussprüfungen als Klassenbester ab. Meine Eltern unternahmen alles, um mir ein Studium zu ermöglichen. Doch wollte ich nicht. Mein Freund, mit dem ich mich noch immer so glänzend verstand, wollte auch nicht studieren. Er war nur darauf aus, möglichst bald Geld zu verdienen, um sich damit eine grössere Reise leiten zu können. Er wollte vieles erleben und die Welt kennenlernen. Um den einzigen Menschen, den ich in meinem bisherigen Leben Vertrauen geschenkt hatte, nicht zu verlieren, wollte ich mit ihm ziehen. Von zu hause hatte ich für ein derartiges Vorhaben natürlich keine Unterstützung zu erwarten. Zum Glück fand ich bald eine Anstellung und übersiedelte in das Personalhaus meiner Herrschaft. Seither wohne ich hier. Mein Freund folgte mir. Wir vertrugen uns ausgezeichnet, bis ein Ereignis vor einigen Monaten unsere Freundschaft zum Scheitern verurteilte. Es war an einem schönen Frühlingsmorgen, als ich beauftragt wurde, Verwandte, genauer Cousinen meiner Herrschaft mit einer grossen Kutsche vom Hafen abzuholen. Eine der Cousinen sprang mir sogleich ins Auge. Sie blieb als einzige mehrere Wochen, und ich verbrachte eine schöne Zeit mit ihr. Wir waren uns bald sehr zugetan. Ich beschäftigte mich nicht mehr viel mit meinem Freund. Während einer Aussprache mit Paul, bei der es um meine Vernachlässigung ihm gegenüber ging, kam es zu Handgreiflichkeiten, die zwar ohne weitere Folgen blieben, doch mit der Freundschaft war es vorbei. Seither haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Über diese neue Situation kam ich nicht hinweg. Bald erlag ich derselben Weltuntergangs- Stimmung, wie damals zur Schulzeit, bevor ich Paul kennengelernt hatte. Wir arbeiteten von nun an gegeneinander und machten uns das Leben schwer. Mein seelisches Gleichgewicht war gebrochen, und die Beziehung zu meiner Freundin brach ab. Ich konnte mich auf nichts mehr recht konzentrieren. Versuchte ich einen Auftrag ordentlich zu erfüllen, schaltete sich sogleich mein Freund ein und hinderte mich an der korrekten Ausführung. Nun wissen Sie Bescheid. Mein Wunsch ist es, diesen Freund zu vernichten. Gelingt das Vorhaben nicht, wird es mir auch nicht möglich sein, meine Arbeitsweise zu verbessern, und ich verliere früher oder später diese Stelle. So ist es derzeit um mich bestellt, Ich kämpfe gegen Paul. Es ist ein harter Kampf, der aber mit keinem Mord enden wird. Ich habe andere Mittel, ihn unschädlich zu machen. Es genügt die psychische Vernichtung des Feindes. Ich muss nur die Taktik etwas verschärfen und werde bald am Ziel sein. Ursprünglich habe ich damit begonnen, mich ganz auf die Herrin des Besitzers zu konzentrieren. Sie ist schon reiferen Alters, und die Ehe ist ohnedies nicht sehr glücklich. Ich versuche konsequent, die Frau für mich zu gewinnen, und werde sie eines Tages zu meiner Gattin machen. Indem ich somit einen Paul ignoriere und die Liebe auf dieses andere Subjekt projiziere, wird es ein leichtes sein, meinen Gegenpart auszulöschen. Für immer. Erst dann werde ich wieder gesund sein. Meine Schwächeanfälle, meine schrecklichen Träume werden vorbei sein, und ich kann endlich ein glückliches Lebens als Gutsherr führen. Noch muss ich mich gedulden. Ihre Sympathie habe ich bereits gewonnen. Ich muss vorsichtig handeln. Ich darf nichts überstürzen. Sie werden sich nun fragen: Und was sagt der Herr dazu? Wer lässt sich so etwas gefallen...? Und ob es geht. Der Herr ist nämlich mein Vater. Ich vereinige meinen Freund und meinen Vater und mache dieses symbiotische Wesen zu meinem Diener und zu meiner Gemahlin. Ich nehme ohnehin schwerste Lasten auf mich. Einen fremden Mann als Vater anzuerkennen, das ist sicher nicht so einfach. Doch werde ich darüber hinwegkommen. Eigentlich bin ja ich mein Vater. Ich. Paul Wegener!

 
Zurück zur Literatur-Übersicht

Helgoart

Malerei, Film, Literatur & Radio

@   EN